Verlorner Sohn - Waldkönig

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rodger
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Verlorner Sohn - Waldkönig

Beitrag von rodger »

Da ich den Roman gerade lese und wir es heute in einem anderen Thread "davon hatten", hier einige frische Leseeindrücke aus der "Waldkönig" alias Buschgespenst - Episode; die Zahlen in Klammern bezeichnen die Seitenzahlen der HKA. Der Text wird parallel auch auf meiner Internetseite erscheinen, auf der zu allen Werken Mays Anmerkungen zu lesen sind (work in progress ...)

Frommen Versen, mehrschichtig betrachtbar, werden wir des öfteren begegnen in diesem Band,

"Kein Leiden kommt von ungefähr;
Die Hand des Höchsten schickt es her;
Sein Rath hat's so ersehen.
Drum sei nur still
Und was Gott will,
Laß immer gern geschehen!" (715)

Zum einen, das kann man ja ganz wörtlich nehmen und richtig finden. Und möglicherweise hat Karl May das auch getan. Das schließt aber nicht aus, daß solche Zitate auch in zynischer Weise eingesetzt werden können ... und der Zusammenhang ist manchmal dermaßen makaber, das schon sehr schlicht blauäugig sein muß, wer diesen Aspekt nicht sehen will.

Eduard beschert seine hungernde Familie, "Er nahm davon so viel, als er für heute zu brauchen meinte, und kehrte damit in die Stube zurück, wo ihn ein Anblick erwartete, von dem sich nur sehr schwer sagen ließ, ob er zum Entzücken oder zum Erbarmen sei." (716) Beides. Oder noch mehr. Zum Entzücken, zum Erbarmen und zum Verzweifeln. Das alles gleichzeitig. Das Thema Mehrschichtigkeit ist eines der ganz großen bei Karl May.

"Wer in diesem Augenblicke in die ärmliche Stube getreten wäre, dem hätte ein Odem Gottes entgegen geweht, als ob er sich in der Kirche befinde. Die Armuth, das Elend führt zu Gott; der Reichthum aber macht gleichgiltig gegen den Geber aller Güter." (719)

Dann wird es auf andere Art richtig unangenehm, Elend muß nicht äußerlich sein; die bedrückende Szene zwischen Eduard und 'Engelchen', die im Gegensatz zu ihm nicht ahnt, was die Sache mit dem Maskenball für die beiden bedeuten wird: "Sie sagte das beinahe jubilirend, ganz in demselben freudigen Tone, in welchem vorhin seine hungernden Geschwister das Brod bewillkommnet hatten. Es war ihm ganz so, als ob sich eine harte, kräftige Hand um seine Kehle lege, um ihn zu erwürgen, und es dauerte lange, ehe es ihm gelang, die Frage hervorzustoßen". (721) Der Berichterstatter May schaut tief in seine Figuren hinein, mit schonungslosem Röntgenblick ... Er versteht etwas von den Menschen, und das geht halt, wenn man denn 'richtig gucken' kann, ganz ohne Psychologiestudium ...

"Sie war nicht schlecht; sie war auch nicht leichtsinnig; sie war nur jung und unerfahren. Sie hatte ihn lieb, so lieb, nun ja, wie man einen Nachbarssohn gewöhnlich zu haben pflegt, dachte sie, und da gab es ihr Spaß, ihn ein Wenig zu necken oder gar zu ärgern. Denn daß er sich ärgere, das hörte sie ja: Seine Stimme bebte vor Zorn." (721)

"Er gab ihr die Hand. Diese war so kalt, so eigenthümlich kalt. Es war nicht die Kälte, welche vom winterlichen Froste kommt". (722)

"Er hatte keinen Gedanken, kein Gefühl; aber er wußte, daß er todt sei, todt, gestorben an einem plötzlichen, fürchterlichen Schlage, der auf sein Herz gefallen war." (723)

"So eine Hand ist entsetzlich!" konstatiert 'Engelchen' (724), aber daß das an ihr liegt, kommt ihr nicht in den Sinn ...

"Sie liebte Eduard Hauser; aber sie war sich dessen noch nicht bewußt geworden. Darum machten die Flitter auf sie, das unbemittelte Webermädchen, Eindruck, und Das, was der Vater sagte, schmeichelte ihrer Eigenliebe." (724)

Als er sie dann im Spiegel sieht beim Umziehem, bekommt die Angelegenheit denn doch auch komische Züge, "Er sah im Spiegel Alles, Alles"; "Er war ein armer Weber und kein erotischer Gourmand, kein Kenner weiblicher Schönheit; aber das Bild, welches sich jetzt innerhalb des Spiegelrahmens bewegte, dünkte ihm der Inbegriff alles Herrlichen und Schönen zu sein." (726)

"Er stand trotz seiner ärmlichen Kleidung so hoch, so stolz vor ihr wie ein Prophet und Prediger. Er hatte gar nicht das Aussehen eines armen Webersohnes. Die Angst seines Innern, sie zu verlieren, und sein reges, sittliches Gefühl hatten ihm Worte in den Mund gelegt, wie man sie sonst nur aus dem Munde gebildeterer Männer, als er einer war, zu hören pflegt; aber gerade durch diesen Ernst und diese Strenge fühlte sie sich zurück- und abgestoßen. Es wollte sie zwar kalt überlaufen; aber sie hatte ein Lob, eine kleine Anerkennung, daß sie schmuck und sauber sei, erwartet, und mußte eine solche Rede hören. Die Widerspenstigkeit des Evakindes überkam sie" ... (728) Kann man das besser schildern ?

"Hätte er es zu einem freundlichen Blicke bringen können, so hätten sich zwei brave Herzen hier gefunden; aber es gelang ihm nicht. Seine letzten Worte erbitterten sie noch mehr" (728)

Fritz Seidelmann, so erfahren wir, hat seinerzeit ein Dienstmädchen vergewaltigt und soll jetzt erpreßt werden ...

August Seidelmann vergehen auch darüber die Bibelsprüche nicht, "Philister über Dir, Simson! Ergreife die Säulen des Gebäudes und brich es zusammen!" (741)

Man ersinnt gemeinsam den Trick, dem Mädchen einen Diebstahl in die Schuhe zu schieben ...

"Dem Gensd'arm that das Herz weh" (757), aber die schreiende Ungerechtigkeit nimmt ihren Lauf ...

"Nun, rings ist tiefer Schnee. Den Paschern muß daran liegen, unbemerkt zu bleiben. Dunkle Kleidung sticht vom Schnee ab. Was liegt da näher, als daß man, um die Grenzer zu täuschen, ein Betttuch über nimmt. Dann ist man des Nachts vom Schnee nicht zu unterscheiden." (760) So wird erklärt, warum der Waldkönig und seine Leute sich in Betttücher hüllen. Relativ unspektakulär, und hat mit unheimlicher Herumgeisterei nichts zu tun, das haben sich erst die Bearbeiter für das 'Buschgespenst' (das bei Karl May gar nicht so heißt) ausgedacht.

Ein nüchterner Blick auf die lieben Mitmenschen: "Also plötzlich heißt es im Orte: Der Gensd'arm ist beim Schreiber Beyer. Natürlich rennt Alles hin, um Maulaffen feil zu halten!" - "So ist's, Alter! Wenn Einem ein Malleur passirt, da kommen sie in hellen Haufen gerannt, um sich darüber zu freuen. Geht es Einem aber wohl, so bleiben sie davon und krächzen vor Mißgunst und Neid." (765)

"Diese Menschheit ist so gut, so liebevoll, so zuvorkommend! Und da stürzen sich nun ein halbes Dutzend solcher Klatschbasen zu der Kranken in die Stube und schreien ihr vor, daß ihr Mann in Ketten und Banden als Dieb und Hehler mit der Tochter fortgeschafft worden sei." (766)

Beyer ist arretiert, seine Frau darüber gestorben, der Förster weiß, was er von alledem zu halten hat, "Herrgott von Mannheim, ich möchte der ganzen Welt den Kopf abhacken!" (767)

Vortragsabend der Seidelmanns, "Nach diesen Strophen begann der Vortrag über das Thema: Gott ist der Helfer in jeder Noth und Gefahr. Er zerfiel in die beiden Theile: Herr, hilf uns; wir verderben! und: O, Ihr Kleingläubigen, warum zweifelt Ihr?" (773) Das ist schon sehr bös' ...

"Er kannte die Leute, zu denen er sprach; er kannte auch ihre Verhältnisse, ihre Nothlage, ihr Elend. Er kannte jedenfalls ebenso gut auch die wirklichen Gründe desselben. Er schilderte es ihnen mit beredten Worten in seiner ganzen nackten, erschreckenden Wirklichkeit, aber er hütete sich wohl, diese Gründe zu erwähnen."; "Er war der Fuchs, welcher den Hühnern predigt, und er verstand seine Sache." (774)

Das zu Wohltätigkeitszwecken eingesammelte Geld sacken die Brüder selber ein, auch ansonsten wird kräftig gemauschelt, "Übrigens haben Sie statistisch nachgewiesen, daß es nur leichte Erkrankungen gewesen" heißt es zum Arzt (778), "Soll ich etwa wissen lassen, daß gerade mein Bezirk der elendeste des ganzen Landes ist?"

"In diesem Augenblicke brachte der Hausherr einen Toast auf das Bestehen der Gesellschaft der Brüder und Schwestern der Seligkeit aus. Die Hochs erklangen, und die Gläser klirrten; der Wein floß in die durstigen Kehlen."

"Ich friere bis in die Seele hinein" (780) sagt die alte blinde Frau, die in die illustre Versammlung hineinplatzt, und als Bettlerin weggeschickt wird ... "Ich kann, ich darf Ihr nichts geben; ich darf Gott die Freude nicht verderben. Bete Sie, und dann wird er selbst kommen und Ihr helfen" ... (782)
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