Leserunde: "Weihnacht!"

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Tobias K.
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von Tobias K. »

Doro hat geschrieben:Hmmm, nu ja, das mit den Bekannten kommt ja drauf an, wenn die Buddisten waren... wenn ich jetzt bei der Ausgangssituation mit der Zeit vor Christus bleibe, dann kann ich ja solange zumindest durch die Wiedergeburt bis nach Christus gelangen und dort dann als Christ ins Paradies eingehen, bevor ich als Heide vor Christus in ewiger, wenn auch gedämpfter, Verdammnis brutzle ... :lol: :wink:
Darauf dann aber doch die wunderbare Kara Ben Nemsi-Logik aus dem ersten Kapitel des Orientzyklus: Wenn ich mich zu einer fremden Religion bekehren ließe, dann käme ich in die christliche Hölle - wenn ich bei meinem Glauben bleibe habe ich Hoffnung auf das christliche Paradies. Will sagen: Ja, Du hast Optionen - aber nur im Christentum ;)

Und dass Tucholsky nicht gemeint war, war mir klar - aber ich befürchte ich komme mit Deiner Argumentation nicht klar.
Doro hat geschrieben:Ich meine, das bei strahlender Helligkeit das Licht einer Kerze nicht auffällt, obwohl es ein wunderschönes Licht ist. :wink:
Doro hat geschrieben:Metaphorisch könnte mensch auch soweit gehen und interpretieren, wo es am Meisten menschelt ist auch die (gesuchte) Menschenseele zu finden, wo die Dunkelheit am Größten leuchtet selbst das schwächste Licht unglaublich hell ;)
Ich bemühe mal den abgenutzten Witz von dem Mann, der betrunken unter einer Laterne auf dem Boden herumkriecht. Auf die Frage, was er da tue, sagt er "Ich suche meinen Haustürschlüssel." - "Und den haben Sie hier verloren?" - "Nein, da drüben. Aber hier ist's heller."

Die Pointe des Witzes mal ins Gegenteil verkehrt hieße dann, ein Glühwürmchen auch tags im Tunnel zu suchen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Menschenseele automatisch da ist wo es am Dunkelsten ist. Müßte sie nicht bestenfalls überall zu finden sein? Er sucht ja nicht nur nach der Menschenseele, sondern auch den Menschengeist. Und was er damit meint erklärt sich am Besten aus einem Beispiel, dass er dem selben Hans Möller gibt, dem er auch die oben zitierten Zeilen schrieb:
Karl May hat geschrieben:In Ihrem zweiten Briefe wiederholen Sie eine Bitte, die bereits im ersten stand. Ich versuche, sie zu erfüllen, indem ich Ihnen folgendes Bild vorführe. Es ist trivial, aber ziemlich gut passend.

Da steht eine Droschke. Der Wagen ist der menschliche Leib; die Anima ist das Pferd. Wenn die Anima sich in Bewegung setzt, so laufen sämmtliche Räder. Aber diese Bewegung gleicht derjenigen des Neugeborenen, der nur erst aus Leib und Anima besteht.

Da steigt der Kutscher auf. Das ist die Seele. Jetzt ist Geschick und Wille da. Man kann loskutschiren; aber eintragen wird es nichts. Hierauf kommt ein Herr, dem man es ansieht, daß er zahlen kann. Der steigt ein und befiehlt »Lindenstraße und Jäger-Allee nach der Artillerie-Kaserne und dann nach Fahrland durch das Nedlitzer Holz!«

Dieser Herr ist nun endlich der Geist, der Menschengeist, durch den die Droschke provitabel wird, denn er verlangt nichts umsonst.

Ist Hans Möller nicht mehr blos Anima, sondern bereits schon Kutscher, so fährt er heut Göthe, morgen Schiller, übermorgen Kant, hierauf Michel Angelo, dann Wagner oder Nietzsche. Die zahlen gut, nicht blos nach Tarif, sondern mit fairen Trinkgeldern. Die Summe mehrt sich von Tag zu Tag. Und ist Hans Möller kein dummer Kerl und zählt er eines schönen Abends nach, so findet er, daß er nun genug beisammen hat, um nun sich selbst zu fahren, anstatt immer nur Andere. Er schraubt den Bock ab, wirft ihn herunter und setzt sich in den Fond des Wagens, wo immer nur andere Geister saßen, nach denen er sich richtete. Nun ist er selbst Geist geworden und also reif genug, einen eigenen Willen und ein eigenes Ziel zu haben. Er greift in die Zügel, knallt mit der Peitsche, und vorwärts geht es, bis er Einen hinter sich rufen hört:

»Sachte, sachte, mein lieber Hans! Ich heiße Karl May und will auch nach Fahrland hinaus, sogar noch weiter, immer weiter, bis grad in den Himmel hinein. Halten Sie Ihre Anima etwas zurück; das giebt einen vernünftigen Schritt, und wir fahren neben einander!«

So! Das lesen Sie! Und denken Sie darüber nach!"
Das nun aber wird jedem einzelnen zu wünschen sein - und nicht etwa nur da, wo es "am dunkelsten ist". :)
Hermann Wohlgschaft hat geschrieben:Worin sehen Sie (gerne auch du) konkret den Unterschied zwischen »tendenziell katholischem Glauben« des »lyrischen Ich« in Mays literarischem Werk und der »tendenziell protestantisch-freiheitlich geprägten Privatangelegenheit« des Autors Karl May?
Hermann! (Das Gesieze war dem Forennamen und dem altmodischen Respekt vor dem Lebenserfahreneren geschuldet, aber natürlich, gerne nun so :) )
Was May in seinen Reiseromanen beschreibt ist über weite Strecken Imagination, Wunschdenken - und sehr viel überzeugter, als er selber gewesen sein dürfte. Zudem orientiert es sich (nicht nur, aber eben auch) oftmals am Lesepublikum. (Nach den Weihnachtsferien und dem Umzug werde ich mir "Old Shatterhands Glaube" mal ausführlich vornehmen, versprochen - aber schon beim ersten Hineinlesen in der Uni-Bib schien sich mein Eindruck zu bestätigen.) In seinen autobiographischen Schriften hingegen verweist er darauf, dass seine Eltern zwar Protestanten waren, dies aber eher auf sehr basale und nicht auf streng theologische Weise, was ihn beeinflußt hätte. Man kann in beiden Fällen sicher über eine gewisse Varianz von Deutungen streiten - aber ich bräuchte schon sehr sehr gute Gründe, damit ich überzeugt würde, dass Shatterhands/Kara Ben Nemsis Glaube identisch mit dem des privaten Autors sind.
Mir persönlich gefällt SEHR die, von Ihnen zitierte, Formulierung Mays: »Es giebt keinen guten Christen, der nicht katholisch ist, zugleich auch evangelisch und gar auch Protestant. Die Kirche Christi ist groß (…).« Ich halte diese Formulierung sogar für genial – vor allem, wenn man bedenkt, dass May ja im 19. und im beginnenden 20. Jhdt. gelebt hat, in einer Zeit also, die von ökumenischer Theologie noch sehr wenig gewusst hat.
Unter »katholisch« verstand May, ganz offenkundig, nicht die römisch-katholische Papstkirche, sondern (im ursprünglichen Sinn des Wortes »katholisch«) die »allumfassende«, alle Teil-Konfessionen verbindende Kirche Jesu Christi. Und unter »evangelisch« verstand er, ebenfalls ganz offenkundig, die Rückbindung des christlichen Glaubens an das Evangelium Jesu (bzw. die Botschaft der vier Evangelisten). Und »Protestant« – so verstehe ich das May-Zitat – muss ich als Christ insofern sein, als ich – ganz im Sinne Jesu bzw. der Evangelisten – gegen jede Form von Unrecht protestieren und dieses Unrecht konsequent bekämpfen soll.
Da lese ich schon mal leicht anders: May spielt hier mit den Doppeldeutigkeiten, gerade weil Möller sagt Rosegger sei protestantisch und May sei katholisch und will den harten Gegensatz auflösen. (Immerhin löblich, wenn Roseger ihn verreißt.) Darum schreibt er, jeder sei katholisch und evangelisch - um mit dem nachgeschobenen Protestanten nun auch die Konfessionen wieder in den Blick zu bringen. Wie gesagt: Es ist nur eine leicht andere Lesart. In der Konsequenz allerdings widerspreche ich deutlicher. Wenn wir nämlich annehmen, dass May die von Dir erläuterten Bedeutungen von "katholisch" und "evangelisch" wirklich so meint - dann ist das die eine Sache - dass er bewußt mal tatsächlich "katholisch" (im heutigen Normalgebrauch) schreibt, mal "protestantisch" denkt - dann ist das etwas anderes. Dann nämlich spielt er Verstecken mit seiner religiösen Identität - und das eben widerspricht dann auch wieder dem von ihm selber propagierten "überzeugten" Weltbild. Und dann wüßte ich auch gerne, was ihn von jemandem unterscheidet, der als Nichtchrist genau das selbe täte. (Und ja, wir haben ja einen lebenden Vergleich durch Klaus Berger...) Und noch abstruser scheint mir, nun eine tatsächliche Ökumeneabsicht da "hinein-zulesen". Das ist, als ob man dem Heiligen Franziskus oder der Heiligen Klara eine Borderline- oder Ess-Störung attestieren würde.
Esist nicht so leicht zu erklären, wie es sich impulsiv "denkt" - aber mich stört diese Inbeschlagnahme Mays durch unterschiedlichste Strömungen genauso wie analog die Nutzung eines jeweils zurechtgebogenen Jesusbildes für sich oft sogar widersprechende Geisteshaltungen...
"So scheint mein Rohr besser zu sein als das Eurige, obgleich es viel kleiner ist."
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Hermann Wohlgschaft
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von Hermann Wohlgschaft »

Natürlich ist der »Glaube Old Shatterhands« nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit der Einstellung Karl Mays. Ich vermute mal: Mays ›Theologie‹ war eine interessante Mischung von Old Shatterhands ›katholischem‹ Glauben und Old Surehands Suchen und Zweifeln. Auch ein Schuss Wabble’scher Atheismus mag da mit einfließen.

Was heißt »zurechtgebogenes Jesusbild«? Wer bestimmt, welches Jesusbild das einzig richtige ist? Das kirchliche Lehramt? Ich nehme dieses Lehramt zwar ernst und setze mich mit ihm auseinander. Letztlich aber ist es doch so: Ich lese die Bibel und finde dort ›meinen‹ Jesus wie ICH ihn verstehe und liebe.

Wenn ich in Mays Werken zentrale Gedanken von modernen (katholischen wie evangelischen) Theologen antizipiert finde, so sehe ich darin keine ›Vereinnahmung‹. In einer Reihe von Aufsätzen in den Jahrbüchern der KMG habe ich meine Sichtweise ja belegt und begründet.

Lieber tragophil! Erlaube, dass ich dir (zumindest) in EINEM Punkt total widerspreche: In Mays Büchern liegt sehr wohl eine »Ökumene-Absicht«! Zwar wurde der Begriff ›ökumenisch‹ zu Mays Zeiten kaum verwendet. Aber es ist doch glasklar, dass May in seinen Spätwerksschriften für die Versöhnung zwischen den christlichen Kirchen und – darüber hinaus – zwischen den Weltreligionen geworben hat.
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Tobias K.
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von Tobias K. »

Hermann Wohlgschaft hat geschrieben:Natürlich ist der »Glaube Old Shatterhands« nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit der Einstellung Karl Mays. Ich vermute mal: Mays ›Theologie‹ war eine interessante Mischung von Old Shatterhands ›katholischem‹ Glauben und Old Surehands Suchen und Zweifeln. Auch ein Schuss Wabble’scher Atheismus mag da mit einfließen.
Da könnte ich sofort zustimmen ;) Was heißt könnte. Kann ich. Und tu ich.
Was heißt »zurechtgebogenes Jesusbild«? Wer bestimmt, welches Jesusbild das einzig richtige ist? Das kirchliche Lehramt? Ich nehme dieses Lehramt zwar ernst und setze mich mit ihm auseinander. Letztlich aber ist es doch so: Ich lese die Bibel und finde dort ›meinen‹ Jesus wie ICH ihn verstehe und liebe.
Bevor es Mißverständnisse gibt: Ich hatte das nicht persönlich auf Dich gemünzt. Und ich möchte mir auch nicht anmaßen, diese Entscheidung selber vollständig und allgemeingültig treffen zu wollen. Ich kann aber schon von außen beobachten, dass einander widersprechende Positionen sich auf den selben Jesus berufen - und dann wirds ja irgendwann abstrus.
Lieber tragophil! Erlaube, dass ich dir (zumindest) in EINEM Punkt total widerspreche: In Mays Büchern liegt sehr wohl eine »Ökumene-Absicht«! Zwar wurde der Begriff ›ökumenisch‹ zu Mays Zeiten kaum verwendet. Aber es ist doch glasklar, dass May in seinen Spätwerksschriften für die Versöhnung zwischen den christlichen Kirchen und – darüber hinaus – zwischen den Weltreligionen geworben hat.
Da widerspreche ich doch gerne zurück, Hermann! Die Bücher Mays sind auf dieselbe Art "ökumenisch" wie sein Glaube "katholisch" und "evangelisch" oder gar "protestantisch" ist. Er beabsichtigt eben nicht (wie das die heutige Ökumene eher tut) eine Vereinigung von Papstanhängern und Luthernachfolgern - sondern 'lediglich' (und das ist Untertreibung des Jahrhunderts) eine universelle Umsetzung der Werte, die er im Christentum am Ehesten wiederfindet - auch wenn er sie ansonsten aufgrund seines persönlichen Schicksals genauso gefordert hätte. Er hat seine Umwelt wohl als sehr doppelzüngig erlebt (wie in Heines Wintermärchen "tranken heimlich Wein und predigten öffentlich Wasser") - und kritisiert gerade daher das Christentum "von innern heraus" - er nennt es nicht falsch, sondern ledligich seine Umsetzung.

Wunderbar auf den Punkt gebracht ja in Winnetou II:
Karl May hat geschrieben:Pferde nimmt man zurück, aber Frauen nicht. [sic!] Und verzeihen? Mein Bruder spricht wie ein Christ, welcher stets nur das von uns fordert, dessen gerades Gegenteil er tut! [...] Du willst, ich soll meinen Feinden verzeihen, denen wir nichts zuleide getan haben! Warum verzeiht denn ihr es uns nicht, ihr, die ihr uns alles zuleide tut, ohne daß wir euch Veranlassung dazu gegeben haben? Wenn wir uns wehren, so tun wir unsere Pflicht; dafür bestraft ihr uns mit dem Untergange. [...] Habt ihr durch euer Verhalten bewiesen, daß ihr Bildung besitzet? Ihr zwingt uns, eure Religion anzunehmen. Zeigt sie uns doch!" [Winnetou II, Zürich 1996, 300-301.]
Will sagen: Zusammengefasst glaube ich, dass wir inhaltlich weniger weit auseinander sind, aber jeweils aus persönlichen Gründen eine bestimmte Wortwahl bevorzugen. ;)
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Hermann Wohlgschaft
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von Hermann Wohlgschaft »

Hallo tragophil! Ich sehe da keinen Gegensatz: Einerseits wünschte sich May - dafür gibt es zahllose Belege - eine Art Fusionierung der christlichen Konfessionen und eine Aussöhnung zwischen den Weltreligionen. Und andererseits ging es ihm um die »universelle Umsetzung der Werte, die er im Christentum am Ehesten wiederfindet«.

Ich vermute wie du: Wir unterscheiden uns, was theologische Themen betrifft, weniger in der Sache und mehr in der Wortwahl.
Hermann Wohlgschaft
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von Hermann Wohlgschaft »

Nochmals zu tragophils Eintrag von 02.43 Uhr:

Gewiss war die »Demut«, die Bescheidenheit oder gar die Selbstverleugnung nicht die besondere Stärke Karl Mays. Es gibt aber ernstzunehmende Indizien für die Annahme, dass May um den hohen Wert der »Demut« (oder vielleicht sollten wir besser sagen: des ›Arm-seins vor Gott‹ im Sinne von Matth 5, 3) sehr wohl gewusst hat und diese »Demut« tendenziell (wenn auch wenig erfolgreich :wink: ) für sich selbst durchaus anstrebte.

Ich denke z. B. an zwei Stellen in Bd. XXV ›Am Jenseits‹: Hadschi Halef – weithin das Alter ego des realen Karl May – macht große Sprüche. »Besonders wenn er von unsern Erlebnissen erzählte, nahm er den Mund in einer Weise voll, daß ich ihn häufig unterbrechen mußte.« (S. 7) Doch Kara Ben Nemsi – das Wunsch-Ich des Autors – gibt zu bedenken: »Wir beide brauchen uns gar nichts einzubilden; es giebt überall Hunderte und Tausende von Menschen, die noch ganz andere Kerls sind, als du und ich! (…) Ich sage dir, wenn eine ganze Million Menschen unserer Sorte jetzt plötzlich stürbe, die Weltgeschichte würde ihren Gang sehr ruhig weitergehen!« (S. 68)

Weitere Bemerkungen zu tragophils Eintrag werden noch folgen.
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Doro
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von Doro »

tragophil hat geschrieben:Und dass Tucholsky nicht gemeint war, war mir klar - aber ich befürchte ich komme mit Deiner Argumentation nicht klar.
....Die Pointe des Witzes mal ins Gegenteil verkehrt hieße dann, ein Glühwürmchen auch tags im Tunnel zu suchen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Menschenseele automatisch da ist wo es am Dunkelsten ist. Müßte sie nicht bestenfalls überall zu finden sein?
Ja und nein, ich meine, dass die Menschheitsseele (!) [nicht Menschenseele] schon überall zu finden sein kann. Allerdings fällt sie eben oft in extremst Situationen am ehesten auf...
Siehe zum Beispiel am Weihnachtsfrieden im ersten Weltkrieg, in den Lagern des zweiten Weltkriegs etc...[hier könnte ein Herr Zwockel als Zeitzeuge vielleicht einen wertvollen Beitrag leisten] oder auch eben in 'profanen' Alltagsszenarien. Es war eher ein Vergleich, keine Argumentation im eigentlichen Sinne. Dazu fällt mir ein Satz aus 'The Crow' ein... >wir meinen, es sei trivial, aber es gibt nichts triviales...<
Er sucht ja nicht nur nach der Menschenseele, sondern auch den Menschengeist. Und was er damit meint erklärt sich am Besten aus einem Beispiel, dass er dem selben Hans Möller gibt, dem er auch die oben zitierten Zeilen schrieb...
Dieses Beispiel kenne ich aus ICH (GW) und als ich es zum ersten Mal las (vor vielen Jahren), war ich erstaunt, weil es vom Sinn her genau das traf, was ich Jahre vorher mal einem Freund gegenüber zu kommunizieren versuchte, ja fast die gleichen Beispiele verwendete...
People may hate you for being different and not living by society’s standards, but deep down they wish they had the courage to do the same. (Kevin Hart)
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von Hermann Wohlgschaft »

Zu meinem Eintrag vom 18.12., 19.17 Uhr, möchte ich noch ergänzen:

Auch der Begriff ›protestantisch‹ muss keineswegs in einem konfessionalistischen, andere ausgrenzenden Sinne verstanden werden. In der lateinischen Grundbedeutung ist ein ›Protestant‹ einer, der engagiertes ZEUGNIS gibt FÜR eine Sache – im Sinne Martin Luthers: FÜR die unverstellte, von römischen Fehlentwicklungen befreite Sache Jesu.

Sowohl ›katholisch‹ wie ›evangelisch‹ wie ›protestantisch‹ meint – allerdings in unterschiedlichen Akzentuierungen – das Christsein im ursprünglichen (›reformierten‹) Sinne. Ich bin mir ganz sicher, dass auch Karl May dies so gemeint hat, jedenfalls im von tragophil zitierten Brief an Hans Möller.

Übrigens wollte Luther ja keine neue Kirche gründen, er wollte vielmehr die bestehende (katholische) Kirche reformieren, d. h. zurückführen auf ihren eigentlichen Ursprung, nämlich das Evangelium Jesu. Dass Luther damit gescheitert ist, lag AUCH (nicht NUR) an der Sturheit, an der theologischen Borniertheit der damaligen Päpste. Auch dies hat Karl May, m. E., völlig richtig gesehen.
Hermann Wohlgschaft
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von Hermann Wohlgschaft »

tragophil, ein weiteres Mal zu deinem Eintrag vom 18.12., 02.43 Uhr:

Du stellst an Mays – nicht unumstrittenes – Christsein, so will mir scheinen, sehr hohe Ansprüche. :wink: Du bezweifelst z. B., dass unser Karl »regelmäßig in den Gottesdienst geht und dort nicht mit den Gedanken (…) abschweift«.

Da frage ich mich erstens: Gibt es in Mays Briefen oder in seinem Erzählwerk irgendeine Stelle, wo der Autor behauptet, er (oder sein literarisches Ich) gehe regelmäßig in den Gottesdienst, ohne mit den Gedanken jemals abzuschweifen? Und ich frage mich zweitens: Gibt es auf dieser Erde überhaupt irgendeinen Menschen (sei er nun Christ oder Moslem oder sonst etwas), der regelmäßig den Gottesdienst besucht und dabei stets und ausnahmslos voll andächtig ist? Ich z. B. – das gestehe ich unumwunden ein – gehe zwar regelmäßig in die Kirche, bin aber mit meinen Gedanken keineswegs immer dort, wo ich eigentlich sein sollte, nämlich beim lieben Gott und beim Herrn Jesus.

Gewichtiger, lieber tragophil, ist freilich eine andere Stelle in deinem Eintrag: Du fragst, ob man als Christ nicht wenigstens »glauben muss, dass Jesus Gottes Sohn UND wahrer Mensch war – und somit aber den Glauben daran haben müsste, dass er für uns starb und wiederauferstand.«

Bei meiner nächsten (oder übernächsten) Wortmeldung werde ich versuchen, auf diese Frage zu antworten.
markus
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von markus »

Jesus wußte doch um unsere menschliche Schwächen. Daher kam Gott ja zu uns als Mensch mit all seinen menschlichen Stärken und Schwächen. So seh ich das. Er kam zu uns als Mensch um uns all unsere Schwächen zu vergeben. Und dafür starb er auch.

Wir sind Menschen, wir werden niemals göttlich sein (und das ist auch gut so).
Hermann Wohlgschaft
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von Hermann Wohlgschaft »

In seinem, Ende 1906 in der Passauer ›Donau-Zeitung‹ publizierten, ›Glaubensbekenntnis‹ schrieb May im 4. Artikel:

»Ich glaube an die einzige, alles umfassende katholische Gemeinde der Gläubigen, zu der ein Jeder gehört, der den Pfad des Erlösers wandelt. Das ist die christliche Kirche!«

Damit ist erwiesen, dass May sehr fein und völlig richtig zwischen ›katholisch‹ im ursprünglichen griechischen Wortsinn (›umfassend‹) und ›katholisch‹ im römisch-konfessionellen (die orthodoxen und die reformatorischen Kirchen ausschließenden) Sinne unterschieden hat. ›Katholisch‹ also war für May ein anderes Wort für ›allgemein christlich‹.
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rodger
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von rodger »

Interessant in dem Zusammenhang ein Brief Klara Mays an Leopold Gheri vom 18.11.1906, abgedruckt in "Im Reiche des roten Adlers", einem lesens- und empfehlenswerten Sonderband, S. 220 f.
Hermann Wohlgschaft
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von Hermann Wohlgschaft »

Jetzt endlich zu meiner angekündigten Antwort auf tragophils Hauptpunkt (im Eintrag vom 18.12., 02.43 Uhr): Stimmt es, dass man als Christ »glauben muss, dass Jesus Gottes Sohn UND wahrer Mensch war – und somit aber den Glauben daran haben müsste, dass er für uns starb und wiederauferstand«?

Zunächst einmal: Wie stand Karl May zu dieser Glaubensfrage, die ja aufs engste mit der christlichen Trinitätslehre verknüpft ist? Im ›Buch der Liebe‹ (1875/76) hat sich May zwar zur BOTSCHAFT Jesu eindeutig bekannt, zugleich aber hat er die GÖTTLICHKEIT Jesu ausdrücklich bestritten. (Dazu Näheres im I. Band meiner May-Biographie, S. 386ff.) Im ›Glaubensbekenntnis‹ von 1906 indessen erklärt May in Artikel 1:

»Ich glaube an Gott, den allmächtigen und allweisen Schöpfer aller Himmel und aller Erden. Er thront von Ewigkeit zu Ewigkeit. Er ist der Herr aller Gesetze und Kräfte und der Vater aller fühlenden Wesen!«

Und in Artikel 3 ist zu lesen:

»Ich glaube an den von ihr [der »Gottesmutter«] Geborenen, den Sohn des Vaters. Nur dadurch, daß er Mensch wurde, konnte er uns den Vater offenbaren. (…)«

Demnach bekannte sich der ältere Karl May ›offiziell‹ zum christlichen Dogma von der Göttlichkeit UND der Menschlichkeit Jesu. (Ob er dies auch ›innerlich‹ glaubte, steht freilich auf einem anderen Blatt. Wir wissen es nicht, jedwede Vermutung wäre Spekulation.)

In Artikel 4 des May’schen ›Glaubensbekenntnisses‹ heißt es:

»Ich glaube an die göttliche Gnade, die diesen Heiland nun auch in unserem Innern geboren werden läßt, um uns wie ihn durch Leid und Tod zur Auferstehung und zur Himmelfahrt zu führen. (…)«

Auch die Auferstehung Jesu – wie auch die allgemeine Auferstehung aller Menschen – wurde also von May, zumindest ›offiziell‹, geglaubt. (Dass er dies auch tatsächlich und nicht bloß für die Zeitung glaubte, bezweifle ich persönlich nicht.) Tragophils Kriterien für das Christsein wären somit im Falle Mays (wie gesagt: zumindest ›offiziell‹) erfüllt.

Soweit zu May. Ich möchte auf tragophils Frage aber auch persönlich antworten:

Ich kenne sehr viele brave Kirchgänger, die eigentlich nur an die Göttlichkeit, aber kaum (jedenfalls nicht konsequent) an die Menschlichkeit Jesu – also z. B. an ein Sexualleben Jesu – glauben. Dennoch möchte ich solchen Leuten ihr Christsein nicht absprechen. Umgekehrt kenne ich viele Menschen (darunter auch regelmäßige Kirchgänger), die zwar an die volle Menschlichkeit, aber kaum (oder nur mit Mühe) an eine Göttlichkeit Jesu (im Sinne einer Wesensgleichheit mit dem Schöpfergott) glauben. Auch solchen Leuten möchte ich das Christsein nicht einfach absprechen.

Übrigens sind der Glaube an die Göttlichkeit Jesu und der Glaube an sein Sterben »für uns« bzw. an seine Auferweckung durch Gott nicht so ohne weiteres – wie tragophil es tut – in einem Atemzug zu nennen. Paulus begründet ja den Glauben an die Auferstehung Jesu nicht mit der ›Göttlichkeit‹ Jesu, sondern mit dem Glauben an die Auferstehung überhaupt: »Wenn es keine [allgemeine] Auferstehung der Toten gibt, ist auch Christus nicht auferweckt worden.« (1 Kor 15, 13) Man könnte demnach an die Auferstehung Jesu und an die Auferstehung aller Toten glauben, auch ohne zugleich die (erst in späteren Jahrhunderten entstandene) dogmatische Formulierung von der »Wesensgleichheit« des göttlichen »Vaters« und des »Sohnes« zu übernehmen.

Eine ganz andere Frage ist: Was ist mit dem christlichen Glauben an die Auferstehung (Jesu und aller anderen) eigentlich GEMEINT? Geht es um eine physische Identität des ›Auferstehungsleibes‹ mit dem irdischen Körper? Gewiss nicht! In der heutigen – katholischen wie protestantischen – Theologie besteht ein weitgehender Konsens: Mit der ›Auferstehung‹ des Individuums ist die endgültige Rettung der je einmaligen Lebensgeschichte gemeint. Doch zu diesem Thema habe ich mich hier im Forum (in anderen Threads) ja schon oft geäußert.
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von markus »

Sehr interessant auch was Intschu Tschuna indirekt zum Thema Protestantismus, hinterfragen von festgefahrenen, verkrusteten Mechanismen sagt...
"Bist du ein ehrlicher Mann und wirst hierher gesandt, um einen Weg für das Feuerroß zu bauen, so mußt du erst den Mann, der dich sendet, fragen, ob er das Recht dazu hat, und wenn er ja sagt, dir dies beweisen lassen. Das hast du aber nicht getan."
(aus "Winnetou I")
markus
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von markus »

Und eine ähnliche, kürzere Leserunde "Weihnacht" gab es schon einmal vor Jahren, wie ich beim googeln fand (mit einem sogenannten Sandhofer :wink: ). Ganz putzig... :mrgreen:

http://www.literaturschock.de/literatur ... pic=3147.0
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Tobias K.
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Re: Leserunde: "Weihnacht!"

Beitrag von Tobias K. »

Hermann Wohlgschaft hat geschrieben:Gewiss war die »Demut«, die Bescheidenheit oder gar die Selbstverleugnung nicht die besondere Stärke Karl Mays. Es gibt aber ernstzunehmende Indizien für die Annahme, dass May um den hohen Wert der »Demut« (oder vielleicht sollten wir besser sagen: des ›Arm-seins vor Gott‹ im Sinne von Matth 5, 3) sehr wohl gewusst hat und diese »Demut« tendenziell (wenn auch wenig erfolgreich :wink: ) für sich selbst durchaus anstrebte.

Ich denke z. B. an zwei Stellen in Bd. XXV ›Am Jenseits‹: Hadschi Halef – weithin das Alter ego des realen Karl May – macht große Sprüche. »Besonders wenn er von unsern Erlebnissen erzählte, nahm er den Mund in einer Weise voll, daß ich ihn häufig unterbrechen mußte.« (S. 7) Doch Kara Ben Nemsi – das Wunsch-Ich des Autors – gibt zu bedenken: »Wir beide brauchen uns gar nichts einzubilden; es giebt überall Hunderte und Tausende von Menschen, die noch ganz andere Kerls sind, als du und ich! (…) Ich sage dir, wenn eine ganze Million Menschen unserer Sorte jetzt plötzlich stürbe, die Weltgeschichte würde ihren Gang sehr ruhig weitergehen!« (S. 68)
Ich glaube, ich weiß was Du meinst, aber ich kenne da aus privatem Umfeld jemanden, der immer sehr deutlich seine Demut verkündet - und ich nehm sie ihm trotzdem nicht ab... Vielleicht färbt aber auch genau das meinen Blick... ;)
Hermann Wohlgschaft hat geschrieben:Auch der Begriff ›protestantisch‹ muss keineswegs in einem konfessionalistischen, andere ausgrenzenden Sinne verstanden werden. In der lateinischen Grundbedeutung ist ein ›Protestant‹ einer, der engagiertes ZEUGNIS gibt FÜR eine Sache – im Sinne Martin Luthers: FÜR die unverstellte, von römischen Fehlentwicklungen befreite Sache Jesu.

Sowohl ›katholisch‹ wie ›evangelisch‹ wie ›protestantisch‹ meint – allerdings in unterschiedlichen Akzentuierungen – das Christsein im ursprünglichen (›reformierten‹) Sinne. Ich bin mir ganz sicher, dass auch Karl May dies so gemeint hat, jedenfalls im von tragophil zitierten Brief an Hans Möller.
Jein, Ich stimme Dir da in fast allem zu - und doch: Ja, May war auch schon so ein Worttüftler und drehte sich die Sachen so, wie er sie mochte - und mehr noch, wie er sie als Konter brauchen konnte, wenn er mal an einen Verbal-Abu-Seif geriet. Er ist mir in diesen Punkten einfach zu "laut". Aber damit könnte ich natürlich jedes Argument wegbügeln - deswegen daneben noch dies: Es geht MIR ja darum, dass ich mich wundere - das heutige "normale" Verständnis der Konfessionbezeichnungen mal auch für damals vorausgesetzt, dass May, ganz wie Klaus Berger, heimlich protestantisch, offen vorzeigekatholisch (immerhin auch in katholischen Blättern!) wirkt und wirken will. Ganz gleich, wie er sich das zurechtformuliert - da ist doch auch ein Touch von "Wes Brot ich ess..." dabei - und hat in diesem Punkto dann doch nicht wirklich etwas von einem Reformer a la Franziskus ;) Mays Formulierungen im Brief an Möller sind doch - wie man an dessen Fragen und gedanklichen Schubladen sehen kann, deutlich "gegen den Strich" gebürstet...

Aber: die "von römischen Fehlentwicklungen befreite Sache Jesu" - das ist eine wunderbare Formulierung für den Fall dass es keine Kreuzigung gegeben hätte =)
Hermann Wohlgschaft hat geschrieben:Du stellst an Mays – nicht unumstrittenes – Christsein, so will mir scheinen, sehr hohe Ansprüche. :wink: Du bezweifelst z. B., dass unser Karl »regelmäßig in den Gottesdienst geht und dort nicht mit den Gedanken (…) abschweift«.

Da frage ich mich erstens: Gibt es in Mays Briefen oder in seinem Erzählwerk irgendeine Stelle, wo der Autor behauptet, er (oder sein literarisches Ich) gehe regelmäßig in den Gottesdienst, ohne mit den Gedanken jemals abzuschweifen? Und ich frage mich zweitens: Gibt es auf dieser Erde überhaupt irgendeinen Menschen (sei er nun Christ oder Moslem oder sonst etwas), der regelmäßig den Gottesdienst besucht und dabei stets und ausnahmslos voll andächtig ist? Ich z. B. – das gestehe ich unumwunden ein – gehe zwar regelmäßig in die Kirche, bin aber mit meinen Gedanken keineswegs immer dort, wo ich eigentlich sein sollte, nämlich beim lieben Gott und beim Herrn Jesus.
Ich präzisiere mich noch einmal. Aufgrund dessen, was ich bisher von ihm gelesen habe - und ja, teilweise auch aufgrund dessen, was ich über ihn las - sehe ich eine sehr gebrochene Persönlichkeit vor mir. Ich glaube es war Claus Roxin, der einmal darauf hinwies, dass da jemand ist, der sich "freigeschrieben" hat. Ja - aber da bleiben Narben, die zumindest zum innerlichen Protest herausfordern. Und mir ist die Geschichte zu simpel, wenn sich am Ende alles in göttliches Wohlgefallen auflöst. Zudem: Wo liegt der tatsächliche Auslöser? May bekommt durch Kochta einen Schubs - und vielleicht war dieser Mann (gibts über den Kochta eigentlich noch mehr Literatur?) ein genialer Menschenkenner und -helfer. Aber das große Gottesereignis, das May sich regelmäßig herbeischreibt kann ich mir schwer vorstellen. Ich will sagen: Es gibt in meier Wahrnehmung einen großen Unterschied zwischen gläubigen Menschen (und sei es C.S.Lewis, der erst extrem spät zum Glauben fand) und May. Er schreit seine Überzeugung so laut, dass ich ihm nicht glaube. - Das ist natürlich keine Aussage über den nur dem Schöpfer einsichtigen Fakt, ob er oder ob er nicht... Und ich sehe ihn im Gottesdienst sitzen - in sich selbst versunken - was nicht der schlechteste Weg ist um nach Gott zu suchen. Aber es macht für mich May zu einem sehr frühen Fall dessen, was wir heute oft haben: Ein Individualchrist. Aber er hat keine "religiöse Identität" im Sinne einer Zugehörigkeit. (Alois Hahn hat da einiges zur Funktion des Fremden und zur Identität geschrieben...)
Hermann Wohlgschaft hat geschrieben:Gewichtiger, lieber tragophil,
So möchte ich jetzt immer angeredet werden :)
Hermann Wohlgschaft hat geschrieben:ist freilich eine andere Stelle in deinem Eintrag: Du fragst, ob man als Christ nicht wenigstens »glauben muss, dass Jesus Gottes Sohn UND wahrer Mensch war – und somit aber den Glauben daran haben müsste, dass er für uns starb und wiederauferstand.«
[...]
»Ich glaube an die einzige, alles umfassende katholische Gemeinde der Gläubigen, zu der ein Jeder gehört, der den Pfad des Erlösers wandelt. Das ist die christliche Kirche!«

Damit ist erwiesen, dass May sehr fein und völlig richtig zwischen ›katholisch‹ im ursprünglichen griechischen Wortsinn (›umfassend‹) und ›katholisch‹ im römisch-konfessionellen (die orthodoxen und die reformatorischen Kirchen ausschließenden) Sinne unterschieden hat. ›Katholisch‹ also war für May ein anderes Wort für ›allgemein christlich‹.
Den Artikel beendet er aber auch mit dem Satz: "Das ist es, was ich glaube. Es ist nicht ein unzulänglicher, trügerischer Körper, sondern der Geist und die Seele, der Inhalt und das Wesen meiner Religion. Mehr kann wohl niemand geben! ---"
Als angehender Germanist zumindest - und teilweise auch als Theologe - riech ich da mehr Krawall und Protest. Immerhin: Da steht "meiner" Religion - nicht etwa "der Religion, die mir hilft" oder so etwas - der vorletzte Satz zielt subtil (nach all den falschen Religionsfürsten seines Gesamtwerks) durchaus auch gegen Katholiken wie Protestanten - und der letzte setzt ein dramatisches Endpünktchen. Mehr -als er?- kann niemand geben? - May ist hier für mich mehr suchender Faust als sicherer Christophorus.
Hermann Wohlgschaft hat geschrieben:Stimmt es, dass man als Christ »glauben muss, dass Jesus Gottes Sohn UND wahrer Mensch war – und somit aber den Glauben daran haben müsste, dass er für uns starb und wiederauferstand«?

Zunächst einmal: Wie stand Karl May zu dieser Glaubensfrage, die ja aufs engste mit der christlichen Trinitätslehre verknüpft ist? Im ›Buch der Liebe‹ (1875/76) hat sich May zwar zur BOTSCHAFT Jesu eindeutig bekannt, zugleich aber hat er die GÖTTLICHKEIT Jesu ausdrücklich bestritten.
Um es mal mit den Worten meines Dogmatikprofessors Karl-Heinz Menke zu paraphrasieren: "Wenn Jesus nur Mensch und nicht auch wahrer Gott war - dann hätte er im Erleiden des physichen Todes den eigentlichen Tod (die Trennung von Gott dem Vater) nicht besiegen können. Wenn er aber zuerst menschlich geboren und nachher 'adoptiert' worden wäre hätte er eine andere Person werden müssen, was nicht denkbar ist." Oder verkürzt: "Wenn Jesus nur ein Mensch war, dann war er höchstens ein seeehr großes Vorbild - aber dann gäbe es keinen Grund an ihn mehr zu glauben als an andere Vorbilder."
Das muß natürlich niemand zwingend so glauben, aber mir erscheint es denknotwendig, Jesus als wahrer Sohn und wahrer Mensch zugleich zu verstehen. Ja, Chalcedon kam "erst" nach kapp 300 Jahren - aber zuvor war das lange Zeit auch gar nicht so fraglich. Mir persönlich erscheint es bezeichnend, dass es ausgerechnet im Zeitpunkt des Zusammenbrechens des Römischen Reiches unklar zu werden scheint...
Wenn nun May an dieser Stelle nicht mitzieht - ist es zumindest schwer zu beurteilen. Ich will ihm da nichts mit absprechen - aber es ist ein weiterer Punkt für meine Zweifel.
»Ich glaube an Gott, den allmächtigen und allweisen Schöpfer aller Himmel und aller Erden. Er thront von Ewigkeit zu Ewigkeit. Er ist der Herr aller Gesetze und Kräfte und der Vater aller fühlenden Wesen!« Und in Artikel 3 ist zu lesen: »Ich glaube an den von ihr [der »Gottesmutter«] Geborenen, den Sohn des Vaters. Nur dadurch, daß er Mensch wurde, konnte er uns den Vater offenbaren. (…)«

Demnach bekannte sich der ältere Karl May ›offiziell‹ zum christlichen Dogma von der Göttlichkeit UND der Menschlichkeit Jesu. (Ob er dies auch ›innerlich‹ glaubte, steht freilich auf einem anderen Blatt. Wir wissen es nicht, jedwede Vermutung wäre Spekulation.)
Da bin ich skeptischer. Imerhin schreibt er über die "Gottesmutter": "Ich glaube an die himmlische Liebe, die zu uns niederkam, für die Sterblichen den Gottesgedanken zu gebären. Indem sie dieses tat, wurde sie für uns zur Gottesmutter. Sie lebt und wirkt, gleichviel, ob wir sie verehren oder nicht. Sie ist die Reine, die Unbefleckte, die Jungfrau, die Madonna!" - Man beachte: Die himmlische Liebe kam zu uns nieder? - Nach christlichem Glauben war es ein sterbliches Mädchen, das mit einem freien "Ja" auf die Verkündigung antwortete (das sieht man schön bei Lukas in den kontrastierenden Geschichten eines zweifelnden alten Mannes - Zacharias - und einer glaubenden jungen Frau - Maria -, die beide in derselben Situation unterschiedlich reagieren und daher unterschiedlich behandelt werden...). Und er schreibt auffallend doppeldeutig: "Sohn des Vaters" - Damit kann jeder leben... Vor allem, wenn er vorher gesagt hat, dass Gott der Vater aller Lebewesen ist. Ich weiß, das ist etwas kleinkariert und überinterpretiert... aber... mein Zweifel bleibt... und die Vater-Sohn-Thematik hat er nun wirklich mehr als omnipräsent auf dem Schirm. Es würde mich wundern, wenn er sich da keine Gedanken gemacht hätte.
Zudem: ab Anfang der 90er Jahre hatte der ältere May nach dem Verlust des Vaters (sowohl leiblich als auch psychisch) seine Mutter als Seelenziel entdeckt. (Hier ist aus doppelter Perspektive auch der "Gichtmüller" hochinteressant - besonders die vom Herausgeber gestrichenen Hinweise auf die Konfessionszuordnungen von Obermüller und Niedermüller. Steckt da nicht auch mal wieder May in seinen Figuren und deren Absichten?) Somit passt das Bild der "Gottesmutter" auf anathemawürdige Weise auch sehr gut in ein Maysches Selbstbild hinein. Und zumindest ein wenig damit gespielt wird er haben...

Will sagen: Wenn wir uns schon drauf geeinigt haben, dass wir May nicht immer wörtlich verstehen sollten - warum müssen wir es dann ausgerechnet bei allem tun, was mit Religion zu tun hat. Er empfand viele Religiöse als Mübareks - und zugleich (nicht wahr, Rüdiger?) war er selber ein ebensolcher. Nicht ohne Grund wiederholt er alle dem Mübarek vorgeworfenen Verbrechen in kürzester Zeit nach dessen Verurteilung.
»Ich glaube an die göttliche Gnade, die diesen Heiland nun auch in unserem Innern geboren werden läßt, um uns wie ihn durch Leid und Tod zur Auferstehung und zur Himmelfahrt zu führen. (…)«
Auch die Auferstehung Jesu – wie auch die allgemeine Auferstehung aller Menschen – wurde also von May, zumindest ›offiziell‹, geglaubt.
Einspruch: Er glaubt hier nicht nur Jesu Tod, Auferstehung und Himmelfahrt - er galubt die für uns alle -ihn eingeschlossen- mit. Und Ich glaube zwar -vorsichtig und unsicher- an einer Auferstehung - aber an eine leibliche Himmelfahrt dann doch nicht. (Oder ist das nur, weils am jüngsten Tag eh keine Erde mehr gibt? ;) )
Ich kenne sehr viele brave Kirchgänger, die eigentlich nur an die Göttlichkeit, aber kaum (jedenfalls nicht konsequent) an die Menschlichkeit Jesu – also z. B. an ein Sexualleben Jesu – glauben.
Ähem... ich kann und mag mich dazu nicht detailliert äußern. Aber es gibt da eine schöne Bemerkung von Crossan drüber, die ich hier mal in Eigenübersetzung zitiere:
J,D,Crossan hat geschrieben:"Es gibt einen alten und ehrwürdigen Grundsatz der biblischen Auslegung, dass etwas was wie eine Ente aussieht, wie eine Ente läuft und wie eine Ente quakt, eindeutig ein vermummtes Kamel sein muß. Wenden wir das darauf an, ob Jesus verheiratet war, oder nicht. Es gibt keinen Beleg dafür, dass Jesus verheiratet gewesen wäre (sieht aus wie eine Ente), vielfache Hinweise, dass er es nicht war (läuft wie eine Ente) und keine frühen Texte, die Frau oder Kinder erwähnen (quaskt wie eine Ente)... daher muß er ein Bräutigam inkognito sein (vermummtes Kamel)."
Vielleicht hatte er also Sexualität... bzw. natürlich hatte er eine, im weiten Sinne, wie sie jeder Mensch hat - aber das was man mithört, nämlich tatsächliche Akte - darüber kann man keine Aussage treffen und es gibt keinen Grund irgenwas spektakuläres anzunehmen. Und würde nicht das Argument reiche, dass er ohne Menschlichkeit die Kreuzigung ja nur als Osterspaziergang erlebt hätte?
Dennoch möchte ich solchen Leuten ihr Christsein nicht absprechen. Umgekehrt kenne ich viele Menschen (darunter auch regelmäßige Kirchgänger), die zwar an die volle Menschlichkeit, aber kaum (oder nur mit Mühe) an eine Göttlichkeit Jesu (im Sinne einer Wesensgleichheit mit dem Schöpfergott) glauben. Auch solchen Leuten möchte ich das Christsein nicht einfach absprechen.
Ich hoffe wir verstehen uns nicht falsch untereinander:Ich möchte niemandem das Christsein absprechen. Ich sage ja nur, dass ich keine glaubwürdigen Quellen bisher gefunden habe, die mich überzeugen könnten.

Verzeih - Hermann - das war ein langer Kommentar von mir - und ich habe das Gefühl Deine Gedanken nicht so ganz so gebührend behandeln zu können. Auch wenn ich aber nicht überzeugt wirken dürfte, hab Dank! Ich hab nämlich was zum Grübeln jetzt ;)
Doro hat geschrieben:Ja und nein, ich meine, dass die Menschheitsseele (!) [nicht Menschenseele] schon überall zu finden sein kann.
Ich will ja nciht klugscheißern... aber dann schreib da doch auch... =)
Doro hat geschrieben:Metaphorisch könnte mensch auch soweit gehen und interpretieren, wo es am Meisten menschelt ist auch die (gesuchte) Menschenseele zu finden, wo die Dunkelheit am Größten leuchtet selbst das schwächste Licht unglaublich hell :wink:
Ansonsten sind wir da aber wohl recht dekor, wie der Philosoph Andi Brehme mal gesagt haben soll, wie mir Sven Böttcher mal mitteilte... ;)
"So scheint mein Rohr besser zu sein als das Eurige, obgleich es viel kleiner ist."
[Der Schatz im Silbersee, 217.]

"Der Deutsche pflegt zwar albern, aber auch ehrlich zu sein."
[Der Sohn des Bärenjägers, 508.]
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