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Das Phantasieland - die wirklichere Wirklichkeit

Verfasst: 31.5.2015, 12:11
von Wolfgang Sämmer
Im Dezember 1928 veröffentlichte das „Berliner Tageblatt“ ein Gutachten Rafael Schermanns mit dem Zusatz: „Es handelt sich – ohne dass der Graphologe darüber informiert war – um eine Manuskriptseite Karl Mays aus einem seiner meistgelesenen Bücher, Old Surehand.“
Grosser kräftiger Mensch. Etwas eingefallene Wangen. Scharfer, bisweilen stechender Blick. Pflegt abgerissen, mit Kommandostimme zu reden; wenn er mit einem Begrüssungswort ins Zimmer tritt, ist’s wie ein Donner. Heiteres, in manchem kindliches Gemüt, fühlt sich immer frisch und jung und würde es nicht gern hören, wenn jemand auf seine Jahre anspielte. Ist am liebsten arbeitend, in seinen vier Wänden, hat für Gesellschaften und das grosse Leben nicht viel übrig: Wald, Wiese, Kuhstall ziehen ihn an, womöglich möchte er dort schreiben.
Denn Schreiben ist wahrscheinlich sein Beruf. Wenn er Schriftsteller ist, so ist er einer von farbiger, schweifender Phantasie, er schreibt viel und mühelos, wie ein anderer etwas hinerzählt. Erlebtes verknüpft er und Erdachtes wie der Detektiv aus einer Kleinigkeit einen ganzen Kriminalfall rückläufig rekonstruiert, so genügt ihm ein geringfügiges Erlebnis als Anregung zu wildbewegten romantischen Schilderungen. Das Leben hat ihn, nicht immer ohne seine Schuld, hart angefasst, schlimme Schläge erlitt und parierte er – nicht zuletzt dadurch, dass er sich in sein Phantasieland flüchten konnte, das ihm am Ende die wirklichere Wirklichkeit wurde. Gibt es eine Willensfreiheit, so hat er einmal vor der Wahl gestanden, ein grosser Abenteurer zu werden oder ein grosser Abenteurerromancier; er hat sich nach kurzem Versuch, Abenteuer zu erleben, dafür entschieden, solche zu beschreiben, und Seiten seines Charakters, die ihm selbst und anderen vielleicht eine Gefahr hätten werden können, künstlerisch sublimiert.

Re: Das Phantasieland - die wirklichere Wirklichkeit

Verfasst: 2.7.2015, 19:06
von rodger
wenn er mit einem Begrüssungswort ins Zimmer tritt, ist’s wie ein Donner.
Er wird jubelnd begrüßt, und da er sich linkisch, unbeholfen, sichtlich überrascht bedankt, wird [...]
:mrgreen: