Wilhelm Brauneder

May über May:
Ein »Vielgelesener« – kein »Vielgereister«!

   
Die autobiografische May-Erzählung von 1896 Freuden und Leiden eines Vielgelesenen gilt als besonderes Indiz der Identifikation: Old Shatterhand bzw. Kara Ben Nemsi ist in ihr Karl May, wohnhaft in der Villa »Shatterhand« in Radebeul, woselbst er einen daselbst erlebten Tag schildert. Hier ist May »Old Shatterhand a. D.«, so der Titel der Bearbeitung dieser Ausführungen durch den Karl-May-Verlag, und die dem Original-Artikel im »Deutschen Hausschatz« von 1896 beigegebenen acht Fotografien zeigen May außer als May auch als Old Shatterhand sowie als Kara Ben Nemsi. Identifikation ist hier optisch suggeriert und in der Bearbeitung des Karl-May-Verlages – nachträglich – titelmäßig interpretiert.

Was aber äußerte May, wenn man sich nicht sogleich diese Brille aufsetzen lässt? Ohne sie gibt bereits die Überschrift zu denken: Nicht von einem »Vielgereisten«, nicht von einem tatsächlich reisenden Reiseschriftsteller ist die Rede, sondern von einem »Vielgelesenen«, also einem erfolgreichen Buchautor. Diesem Ansatz entspricht auch sogleich der Anfang. May fühlt sich »von seinen Lesern aufgefordert, ja förmlich gedrängt«, »doch auch einmal etwas über sich selbst zu schreiben« (DH, S. 1)[1]: Da hätte doch bei beabsichtiger Identifikationsreklame erstens der Hinweis genügt, dass er in allen seinen Büchern »etwas über sich selbst zu schreiben« pflegt! Zweitens hätte er nicht unbedingt einen Tag just in Radebeul beschreiben müssen, sondern – »über sich selbst« – ein ganz besonderes Erlebnis in Kurdistan oder Wyoming berichten können. Aber nein: Dort, wo es darum geht, »auch einmal etwas über sich selbst zu schreiben«, beschreibt er weder Old Shatterhand noch Kara Ben Nemsi, sondern – May in Radebeul. May »selbst« ist also ein Schriftsteller daheim. Hier, daheim, so gesteht er, wird er »um Manuskripte gedrängt« (DH, S. 2). Nicht kommen »die Besitzer der Newspapers, um Beiträge von mir zu verlangen« schon in St. Joseph[2], wie er es genau ein Jahr danach 1897 in Weihnacht behaupten wird: May schriftstellert nach unseren Angaben ausschließlich am heimatlichen Schreibtisch, nicht etwa auch am Mississippi. Und da wir in diesem Fall ja wissen, was Wahrheit ist, muss man sagen: May flunkert als »Vielgelesener« nicht und beschreibt sich daher ehrlich als Schriftsteller, der nicht auch in Missouri, sondern allein in Sachsen schreibt.

Hierher kommen die Besucher, um »ihren Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi Effendi persönlich kennen zu lernen« (DH, S. 2). Das klingt ein wenig ironisch, ein wenig nach Über-sich-selbst-lustigmachen: Man kommt nicht einfach um Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi zu besuchen, die Besucher wollen vielmehr, was eigens hervorgehoben wird, »ihren« Helden sehen, also jene Romanfigur, wie sie sich diese subjektiv angelesen haben. Es klingt also wie: Romanfigur im Autor ansehen, der jene gar nicht ist. Nimmt man es aber nicht ironisch, dann bleibt die Verwunderung, dass der Schriftsteller May nicht einfach nüchtern sagt, es kämen Leute, um ihn zu besuchen. Warum muss er gerade seine beiden alter egos ins Spiel bringen? Das Gefühl, tatsächlich einen richtigen Reiseschriftsteller, beispielsweise Möllhausen, besucht zu sehen, und zwar daheim in Deutschland, dieses echte Gefühl wird doch eigentlich gar nicht vermittelt.

In ähnlicher Weise von Old Shatterhand als einer außerhalb Mays stehenden Person spricht dieser auch im Hinblick auf den beerenessenden Gymnasiasten: »Ich klingle, um ihm sagen zu lassen, daß« – nicht: ich, sondern – »Old Shatterhand zu keiner Limonade kommen könne« (DH, S. 2); und: Erdbeerenessen sei – nicht: »meiner«, sondern – »eines Westmannes wie Old Shatterhand unwürdig« (DH, S. 2)! Dieser Umweg über eines seiner alter egos besagt doch eigentlich Folgendes: Wenn mich einer für Old Shatterhand hält, lässt er sich vom Beerennaschen nicht abhalten, da er annimmt, dieser und somit ich nasche Beeren ohnedies nicht.

Und macht er sich nicht über Identifikation nahezu lustig mit dem Wortspiel, ein Klingeln gebe ihm die Empfindung ein, »von einer schlimmen Ahnung wie von einem feindlichen Indianer beschlichen« zu werden (DH, S. 4)? Und gleich anschließend: Er möchte dem »Breslauer Leser« seinen »bekannten Jagdhieb zu fühlen geben; aber wir befinden uns nicht im Wilden Westen, sondern in meinem Studierzimmer«? Soll diese ganze Ironie mit ihrer verbalen Spaltung in May einer- und Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi andererseits das große Hintertor offen lassen: Man hält mich für meine beiden alter egos – aber ich bin's doch gar nicht?

Nicht leugnet May, ja er bekräftigt ganz deutlich, dass Bewunderer, die »meinen Namen nennen«, also May, ihn für »Schschschatterhand« halten wie die »Cartonnagearbeiter« (DH, S. 2); sie haben ihn »alle liebgewonnen« (DH, S. 2)! Aber: Wen wohl nur? Einen fabulierenden Schriftsteller, einen vermeintlich realen Reiseschriftsteller, den Schschschatterhand als Romanfigur? Aber sie halten ihn für einen, der jedenfalls »in Amerika und in Ägypten« gewesen war, sie sehen die »vielen großartigen Sachen, die er hat«, wie Büffel, Kojote, Leopard und Löwe. Aber May schreibt nichts darüber, was er ihnen dazu erklärte, von wo er die Tiere als Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi mitbrachte und tatsächlich stellt er ausdrücklich nur fest, dass er diese Sachen »hat« – der Erwerb der Besitztümer bleibt verschwiegen! Anderen Besuchern hat er sogar »hundert Fragen zu beantworten« (DH, S. 3), er teilt aber nicht mit, wie seine Antworten lauten. Er sagt also nicht etwa: »Das war der Löwe von El Teitl« oder »vom Lager der Abu Hammed«, er schlägt keine Brücke zum Romangeschehen!

Auch Herbig und seine Freunde in Dresden (DH, S. 3) halten ihn, unausgesprochen bzw. nicht niedergeschrieben, für seine alter egos und unterstellen daher, er sei »kräftig«. May beweist dies mit einem entsprechenden Händedruck und – zahlt und geht. Nicht einmal ein »Ja, das ist eben Shatterhand« protokolliert er zu dieser Szene – Identifikation ist seine Sache nicht. Auch der »Dame in Trauer« erweist May keinerlei Identifikation, sondern nur »Mitleid« (DH, S. 3).

Der anschließende Besucher, besagter »Breslauer Leser« (DH, S. 3 f.), hält May ebenfalls für einen, der »in der Sahara und auch anderwärts« gewesen war. May geht darauf aber nicht ein, sondern aufs Biertrinken, schließlich antwortet er zwar in »Kurmangdschikurdisch«, aber nichtssagend: Allfällige Identifikation bleibt dem Breslauer überlassen.

Bierhändler und Weinlieferant, dann ein Verlagsbuchhändler N. aus Wien (DH, S. 4 f.): keinerlei Identifikation seitens des »Vielgelesenen«. Briefe gehen an »Mr. Shatterhand, Dresden« wie auch an den »Herrn Schriftsteller Karl May« – es sind also Leser, welche mit unterschiedlichen Namen dieselbe Person meinen, es ist der »Postbote«, der trotz mangelhafter Anschrift richtig zustellt. Nicht May behauptet Identität, er lässt sie sozusagen bekunden. Dass der an »Old Shatterhand« adressierte Brief »selbstverständlich nach Radebeul zu mir expediert worden« ist (DH, S. 5), beweist just dies, aber ein an »Kapitän Nemo« gerichtetes Schreiben wäre wohl auch Jules Verne zugestellt worden. May schickt allerdings an »Mr. Shatterhand, Dresden« Adressiertes nicht zurück – aber auch Jules Verne hätte dies wohl nicht getan.

Sodann der »Gerichtssekretär« bzw. »Kunstkritiker« (DH, S. 5) – keinerlei Identifikation: Er wendet sich schlicht an »Karl May« als »Schriftsteller« um Geld, nicht an Old Shatterhand um Nuggets – dass dieser keine mitnimmt, kann er noch nicht wissen, erst in einem Jahr wird dies in Weihnacht zu lesen sein[3]. Zwei Mal nur wenden sich Bittsteller an den Reiseschriftsteller, aber bloß insoferne, als sie von dessen Freundschaft zu »Lord Lindsay oder Sir John Raffley« 30.000 Mark erhoffen, bzw., dass er einen Sohn als »Begleiter umsonst mit auf Reisen« nehmen könnte (DH, S. 19).

»Ein Leser aus Amerika« will »mir«, May, die Hand drücken, »nichts weiter«, ebenso dessen Frau, denn sie will »drüben sagen können, daß sie die Hand Old Shatterhands in der ihrigen gehabt habe« (DH, S. 6): keine Identifikation seitens des Maysters. Ebenso im Falle der »drei Realschüler«: Das »Herr und Squaw Old Shatterhand« ist ihr, nicht Mays Ausspruch (DH, S. 17)! Weiters wird durch »einige feuchtfröhliche Leser« – feuchtfröhlich! – »auf Old Shatterhand und seine Westmänner angestoßen und mir dies durch Reime mitgeteilt« (DH, S. 18): Dies ist aus der Sicht der Zecher in erster Linie Hommage an Romanfiguren, wenn es überhaupt Identifikation ist, dann ist sie abermals von außen herangetragen und May teilt uns dies mit wie auch die »Gratulationen und Gaben«, die »Briefe an Old Shatterhand« (DH, S. 18). Sie alle erhält übrigens nicht etwa der Reiseschriftsteller, der Vielgereiste, der Weltenbummler – May selbst bezieht dies alles auf den von seinen Lesern »geliebten litterarischen Papa« (DH, S. 18). »Papa«, Vater? Von wem? »Literarischer Papa«! Also Vater von Romanfiguren! Und gerade im Zusammenhang damit fährt er fort »von den ,Freuden` eines Vielgelesenen zu sprechen«, nicht eines Vielgereisten (DH, S. 18)! May charakterisiert sich als »Vielgelesener« und »literarischer Papa«! Nicht als Vielgereisten und dokumentierenden Chronist!

Auch die anschließend geschilderten Wirkungen erzeugt nicht der Vielgereiste, sondern der Vielgelesene, rufen nämlich nicht die Taten des ersteren, sondern die Werke des letzteren hervor. Es handelt sich nämlich in Mays eigenen Worten um »Wirkungen meiner einfachen Erzählungen« (DH, S. 18): Die »Lektüre Ihrer Werke« hat gottlosen Philosophiestudenten »den Glauben zurückgebracht«; »Ihr ›Surehand‹ hat einer armen Witwe ihren einzigen Sohn erhalten«; die größten Schätze eines Missionars »im Inneren Afrikas sind das Wort Gottes und Ihre Bücher«; durch »Ihre Werke« ist ein protestantischer Arbeitgeber »ein ganz anderer Mensch geworden«; Vorlesen »des Abends« bessert »in den einsamen Dolomiten« die Menschen; dem Ehegatten haben »der Tod Winnetous und das Ave Maria« geholfen; seit wir »Ihre Werke gelesen haben, sind wir keine Sozialdemokraten mehr« (DH, S. 18). Die »Wirkungen meiner einfachen Erzählungen«, so bezeichnender-, nämlich ehrlicherweise Mays Worte, haben also durchaus nichts mit Identifikation zu tun, durchaus nichts mit eigenem Erleben, sondern sind Folgen der literarischen Produktion, die durchaus Fiktion sein kann. Nur einmal in den insgesamt acht angeführten Beispielen geht ein Briefschreiber von Identifikation aus, da er vermeint, »durch Ihre Gespräche mit Marah Durimeh und Old Wabble gerettet worden« zu sein (DH, S. 18) – wie alle vorherigen Identifikationen ist sie also auch von außen herangetragen und überdies könnten »Ihre Gespräche« auch die »von Ihnen niedergeschriebenen Gespräche« sein, doch wäre dies schon Interpretation.

Auch in der Beschreibung seiner Arbeitsweise ist May von einer Identifikation gleich anfangs weit entfernt: »Ich lasse das Herz sprechen und schreiben und bin stets der Meinung gewesen, daß das, was aus dem Herzen kommt, viel klüger ist als das, was der spitzfindige Verstand erst auszuklügeln hat« (DH, S. 18). Aus »dem Herzen kommt« also das Niedergeschriebene! Und man kann ergänzen: Konstruktionen, die »der spitzfindige Verstand« eingibt, könnten es auch sein! Doch der nächste Satz scheint dem zu widersprechen: »Weil ich meist Selbsterlebtes erzähle und Selbstgesehenes beschreibe, brauche ich mir nichts auszusinnen …« (DH, S. 18). Warum aber nicht gleich? Warum nicht gleich der für einen Reiseschriftsteller selbstverständliche Satz: Jeder weiß, dass ich meine Reisen beschreibe, usw. usw.? Warum nicht der doch ganz naheliegende und bei einem Reiseschriftsteller zwingend im Vordergrund stehende Hinweis auf ein Niederschreiben aus der Erinnerung, ein Nachzeichnen von Erlebtem? Zuerst: »Ich lasse das Herz sprechen…«! »Selbsterlebtes« und »Selbstgesehenes« gehen also offenkundig durch diesen Filter. Ganz anders der Arbeitshinweis ein Jahr später in Weihnacht: »… verwandelte ich mich aus dem Westmann in den Schriftsteller. Meine Arbeiten wurden von jeder Zeitung gern aufgenommen … diese Zeitungsbeiträge sind es, welche den Reiseerzählungen zu Grunde liegen«[4]. Im Einklang damit müsste May doch etwa sagen: Soferne ich nicht das eben Erlebte gleich nach meiner Rückkehr in zivilisierte Gegenden niederschreibe und auch dort drucken lasse, arbeite ich hier in Dresden nach der Erinnerung, sehe das im Wilden Westen oder Fernen Osten Erlebte wieder vor mir …! Einem versierten Reiseschriftsteller kann das doch nicht so aus der Feder fließen: »Ich lasse das Herz sprechen …«. Weihnacht aber ist eben ein Roman, die »Freuden« sind es nicht! Nahezu nur am Rande sei noch darauf hingewiesen, dass May behauptet, nicht stets »Selbsterlebtes« und »Selbstgesehenes« zu beschreiben, sondern eine Einschränkung beisetzt: »meist«! May beschreibt also auch anderes! Und weiters: May gibt nicht an, wo er »Selbsterlebtes« erlebt und »Selbstgesehenes« gesehen hat – vielleicht »in der Heimath«? Und dazu lässt er dann »das Herz sprechen«, auf Apatschisch und Kurmangdschikurdisch? Und im übrigen stimmt es ja so auch gar nicht, denn nicht nur selbst Erlebtes und selbst Gesehenes erzählt bzw. beschreibt May, sondern durchaus auch das Erleben anderer Personen, andere Schicksale.

Auch gemessen an seinen schriftstellerischen Intentionen gibt sich May gar nicht als Reiseschriftsteller (DH, S. 18): Er rühmt sich zwar, »ein Lehrer meiner Leser und Leserinnen« zu sein, aber – ganz im Gegensatz zu einem Reiseschriftsteller! – nicht etwa einer der erlebten Geografie und Zeitgeschichte, sondern vielmehr eines sozusagen gottgefälligen Lebens. Als Früchte seiner Reiseerzählungen führt er die schon erwähnten Beispiele eines Insichgehens seiner Leser an, nicht etwa, was für einen echten Reiseschriftsteller wahrscheinlich naheliegend wäre, bestandene Geografieprüfungen, erfolgreiche Reisen auf seinen Spuren oder ähnlich Nacherlebtes. Und es bittet ihn, den Reiseschriftsteller, auch offenkundig gar niemand um nähere Hinweise, wie man denn einen Handel in Kansas aufzuziehen habe, wie man am ungefährlichsten durch's wilde Kurdistan zu reisen vermöchte, wo man in Kairo billig und preiswert Kamele kaufen könne etc. Nein: Eine »arme, blutarme Witwe in Taus in Böhmen« bittet ihn um »eine Photographie«, denn auch sie, nachdem »mit Gott gehadert«, sei nun »still und zufrieden geworden« (DH, S. 19). Betteleibriefe über Betteleibriefe weiß er anzuführen, es geht stets ums Geld des Arrivierten, hier eines Vielgelesenen wie anderswo vielleicht eines Schauspielers, nicht um Auskünfte eines Vielgereisten (DH, S. 19). Man schreibt zwar an »Doktor May, Old Shatterhand«, will aber sozusagen nur vom ersteren etwas (DH, S. 19). Liest man all dieses und Mays Reaktionen, dann hat man den Eindruck, so könnte auch ein Jules Verne über seine Leser schreiben, von dem diese durchaus wissen, dass er weder 20.000 Meilen unter der Meeresoberfläche oder im Ballon darüber hinfuhr und auch nicht am Mittelpunkt der Erde gewesen war.

May erhält nach seinen Angaben auch Einladungen nach »den Pußten Ungarns, der grünen Steiermark, dem herrlichen Achensee, den Schweizer Alpen, dem sonnigen Rheine und dem stillen Nordseestrande«, »der Lüneburger Heide« (DH, S. 20 f.) – alles Orte, die, Ungarns Pußta ausgenommen, May als Sommerfrischler oder Rheinweineinkäufer besucht. Warum eigentlich soll man einen Reiseschriftsteller, der die Strapazen des Far West und zahlreicher anderer Weltgegenden ohne Müdigkeiten überlebt, nach überstandener Pest Arabien und den ganzen Balkan durchquert hat, so billig zum Verschnaufen einladen? Warum wohl? May gibt Antwort: Es ist die »Kunde von meiner mehrmaligen schweren Erkrankung«, welche die Retter merkwürdigerweise besonders aus Österreich-Ungarn, selbstverständlich aus dem Deutschen Reiche und nur vereinzelt aus dem Urlaubsparadies Schweiz zum Einladen bewegt. Kein Lord Lindsay oder Sir John bietet geruhsame schottische Hochmoore an, kein Missouri-Deutscher seine Farm, die Einladungen kommen aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa, eben aus der Lesergemeinde des Vielgelesenen, nicht von den Weltenbummlergefährten eines Vielgereisten. Die selben Grenzen offenbart die »liebe, selige Weihnachtszeit«. Sie bringt nämlich unter anderem Wein vom Karst und aus Deidesheim, Käse aus der Schweiz, Tee aus Norddeutschland (»An der Leda«), Marzipan aus Hamburg, Schinken aus Westfalen, Bier aus Bayern und Böhmen, Butter aus Holstein, Kanzleitinte vom Bodensee – keinen Scotch von Sir David, keinen Bourbon aus Missouri, von den Freunden des Reiseschriftstellers in fernen Zonen kommen keinerlei Geschenke! Nahezu penibel halten die Geschenke die Grenzen Mitteleuropas im weiteren Sinne ein, denn es kommt zwar »Kaviar von der russischen Grenze«, aber kein Wodka aus dem Inneren des Zarenreiches! Mit den Einladungen will man sich May übrigens vom »nervösen Jagen und Hasten der Welt« (DH, S. 20) erholen lassen – nicht vom »Hasten durch die Welt«! Abermals: Eingeladen wird ein erschöpfter Vielgelesener, kein Vielgereister!

Wir können also zwischenresümieren: Wenn überhaupt, dann erfolgt Identifikation durch die Konsumenten der Werke des »Vielgelesenen«, nicht durch ihn selbst. Und das Bild, das er uns insgesamt vermittelt, ist durchaus nicht das eines Reiseschriftstellers daheim, sondern eines daheim schriftstellernden Reiseromanciers, der »Reiseromane« schreibt und mit Humor sieht, dass ihn seine Leser über einen »Vielgelesenen« hinaus für einen Vielgereisten halten.

Freilich gibt es da im »Deutschen Hausschatz« von 1896 auch andere Sätze! »Sie sind Mr. Kara Ben Nemsi Effendi, nicht wahr, Sir?« – »Ja« antwortet May. Der Besucher kennt auch David Lindsay und May weiß, dieser »ist nach Australien gegangen«, was »in allen größeren Zeitungen zu lesen war«, und zwar über Lindsays Kamelritt quer durch den Kontinent, wo er überdies »sehr ausgedehnte Kohlenfelder entdeckt« habe. Der Besucher, ein Herr Kraft, weiß auch davon, denn er war bei Lindsay gewesen. Und einen Brief bringt er von diesem mit, »zwanzig engbeschriebene Seiten« lang (DH, S. 6). Herr Kraft bestätigt also als Zeuge und mit schriftlichem Beweis die Existenz des Sir David, dessen Freundschaft mit May und ferner, dass dieser Kara Ben Nemsi ist, was May überdies bejaht. Auch wenn May »meine Reisen« erwähnt (DH, S. 17), so klingt das nach Identifikation, speziell durch die Behauptung, er habe sich seine Sprachkenntnisse trotz »Fleischer und Wüstenfeld, die berühmten Orientalisten«, »doch erst an Ort und Stelle geholt« (DH, S. 18). Schließlich und tatsächlich Mays Ausführungen abschließend, ist da Winnetou, der »in meinen Armen die Augen schloß«, und zwar bei den »Klängen« seines Ave Maria, wie er es »noch heute … in den Ohren« hat und dessen bislang fehlende Strophen er nun nachträgt (DH, S. 21): Diese, am Metsur-Fluß begonnen, werden nun an der Elbe beendet!

Allerdings vermitteln auch diese Ausführungen durchaus nicht den Eindruck bzw. das Gefühl, es spräche hier ein tatsächlich Vielgereister über Reflexionen echter Reisen. Der bloße Hinweis auf »meine Reisen« ist vage und daher nichtssagend. Aber »meine Lehrer« Fleischer und Wüstenfeld? Wenn ich behaupte, dass beispielsweise Roxin, der berühmte Strafrechtler, »mein Lehrer« gewesen sei, so sagt dies noch lange nicht, dass ich von ihm persönlich unterrichtet wurde, ich kann mich »von Roxin« auch durch sein Lehrbuch, ohne ihn je gesehen zu haben, belehren lassen – May muss daher durchaus nicht so verstanden werden, dass er »Fleischer und Wüstenfeld, die berühmten Orientalisten,« als »meine Lehrer« gehört hat, sondern er kann auch das Studium ihrer Werke meinen, zumal Ferdinand Wüstenfeld (1808-1899) im Dresden-fernen Göttingen lehrte. Und just von Heinrich Leberecht Fleischer (1794–1863), Professor im ohnedies nahen sächsischen Leipzig, befinden sich zwei Titel in Mays Bibliothek[5]! Aber den letzten Schliff hat May sich doch erst an Ort und Stelle geholt? Genauer, so seine eigenen Worte, hat er sich »den eigentlichen Fluß« dort geholt – was das wohl heißen soll? Die flüssige Rede, die Praxis? Es ist dies ein eigentümlicher, holpriger Ausdruck, gar nicht passend für einen Vielgereisten, zumal »Ort und Stelle« ein platitüdenhafter Ausdruck ist. Und tatsächlich verrät May mehr, vielleicht sogar »Ort und Stelle«. Gleich anschließend an diese Paarformel heißt es nämlich: »Wirklich in den Geist einer Sprache eindringen kann man nur als Angehöriger des Volkes, von welchem sie gesprochen wird …«. Das ist nun nicht unbedingt richtig, der Schriftsteller Joseph Conrad, englisch schreibend, war bekanntlich Pole und manch gute Übersetzung ist so gut wie das Original, etwa die von Shakespeare durch Schlegel und Tieck. May könnte nun für sich reklamieren, dass er durch Blutsbrüderschaft Angehöriger eines Araber- und eines Indianerstammes, sogar dessen Häuptling, geworden sei – aber so buchstäblich-äußerlich meint May die Angehörigeneigenschaft gar nicht, denn »wer meine Erzählungen gelesen hat, der weiß, daß ich stets nach dieser, wenn auch der inneren, Angehörigkeit getrachtet habe«! Innere Angehörigkeit! Meint May mit »Ort und Stelle« ein Anlesen der Sprachkenntnisse aufgrund der Werke von Fleischer und Wüstenfeld, verbunden mit einem subjektiv empfundenen Insichversenken in einen Indianer- und Araberstamm als einer »inneren Angehörigkeit«? Vielleicht war May tatsächlich dieser Auffassung, er sei so »innerer Araber« und »innerer Apache« geworden, was miterklären könnte, dass es sodann angesichts der realen Araber auf seiner Orientreise zu dem bekannten seelischen Umschwung bis hin zum Zusammenbruch kam. Eine klare Antwort als tatsächlicher Reiseschriftsteller gibt May jedenfalls nicht, er sagt beispielsweise nichts etwa in dem Sinne: Meine Schul-Englischkenntnisse waren zwar gut, an Ort und Stelle, nämlich in St. Louis – in Einklang mit Winnetou I. –, fing ich damit aber wenig an, lernte erst allmählich den dort üblichen Dialekt etc., der dann in meine Werke einging. Das natürlich hätte er so auch gar nicht schreiben, vielleicht aber nachempfinden, erfinden können. Tatsächlich geschieht aber nicht einmal dies! Vielmehr lässt May auch hier Deutungen durch die Verquickung von »Ort und Stelle« mit »der inneren Angehörigkeit« zumindest ein Türchen offen.

Ähnlich merkwürdig ist der Besuch von Herrn Kraft mit seiner Botschaft. Direkter oder schlimmstenfalls entfernter Realitätsbezug wird dieser Szene dadurch beigemessen, dass man mindestens die Vermutung in den Raum stellt, es handle sich hier um den Abenteuerschriftsteller Robert Kraft, mehrmals und auch jüngst verlegt im Karl-May-Verlag, früher in der Serie »Welt der Abenteuer« etwa mit »Wir Seezigeuner«, nun in »Edition Ustad« mit »König König«. Ein Besuch Krafts in der Villa Shatterhand müsste im Jahre 1896 zwischen deren Ankauf und der Niederschrift der »Freuden und Leiden« angesiedelt werden – Kraft wäre also danach, da 1869 geboren, 27 Jahre alt gewesen. In diesem Alter kann man sehr wohl leicht per Leiter auf Balkone klettern – nur: Robert Kraft war nie, in Mays Worten, »ein Westmann oder etwas Ähnliches«, Nordamerika hatte er nie betreten. Krafts Englisch steht daher, so könnte man ironisch bemerken, dem Mays in nichts nach: »Very right« statt »very well«, »at home«-Sein = »at home kommen«, die »little maid« mutiert kurioserweise zu »my plum« und der Brief ist ein »paper«. Auch war Kraft durchaus kein »Kerl mit einem stark ausgeprägten, pfiffigen Vogelgesicht«, ihn zierte durchaus kein »dünner Vollbart, zwischen dessen Haaren die Haut zu sehen ist«. Das Portrait in der »Vorschau Herbst 1997« des Karl-May-Verlags zeigt vielmehr ein ausdrucksvolles Gesicht mit breiter Stirne, dessen untere Hälfte ein dichter Vollbart bedeckt. Mit dem Besucher Kraft beschreibt May wohl sicherlich nicht Robert Kraft, dieser Anhauch eines Realitätsbezuges verdampft in der kalten Luft der Realität. An Mays Szenario des Kraft-Auftrittes ist aber noch Wesentlicheres höchst merkwürdig. Warum spricht »ein Westmann oder etwas Ähnliches« Old Shatterhand, den dieser »Westmann oder etwas Ähnliches« doch kennen müsste, nicht mit einem westmännischen »Mister Shatterhand«, sondern dem orientalischen »Kara Ben Nemsi« und außerdem entgegen US-egalitären Gepflogenheiten mit dem Titel »Effendi« an? Wieso kann der doch so scharfsichtige Old Shatterhand einen Berufskollegen aus Nordamerika nicht sogleich als solchen verifizieren oder falsifizieren und sagt »Westmann oder etwas Ähnliches«, wozu sich natürlich die Frage einstellt, was ist bloß »etwas Ähnliches« von einem »Westmann«? May gibt ja damit eigentlich zu, dass er einen vielleicht echten Westmann von einem möglicherweise bloß ähnlichen nicht zu unterscheiden vermag! Oder will er sagen, Kraft entspräche so gar nicht einem echten Westmann, gäbe sich nur als solcher aus, da er einem solchen bestenfalls ähnlich sieht? Beides ist für einen May, der Old Shatterhand sein bzw. dies seinen Lesern gegenüber vorgeben will, höchst merkwürdig! Aber: May gibt doch vor, dass Kraft und er einen gemeinsamen Bekannten haben, nämlich David Lindsay, von dem Kraft sogar einen Brief an May/Kara Ben Nemsi Effendi mitbringt! Zudem vereinigt sie das Wissen darüber, dass Lindsay Australien auf Kamelen durchquert hat! Aber auch hier ist eines merkwürdig: Dass – der ja gar nicht existente – David Lindsay seine »sehr schwierige Expedition … zum glücklichen Ende gebracht und dabei nicht nur Gold-, sondern auch … sehr ansehnliche Kohlenfelder entdeckt« habe, sei »in allen größeren Zeitungen zu lesen« gewesen. Wer nun vielleicht ein Viellesender nicht nur des Vielgelesenen, sondern auch der »größeren Zeitungen« war, musste sich sagen, das stimmt doch nicht! Und vielleicht weiters: Warum gibt Lindsay »zwanzig engbeschriebene Seiten« nicht in England per Post nach Dresden auf, sondern einem Herrn Kraft mit, der gar keine Eile hat, diese Zeilen May zu überbringen, denn er hatte sich ja schon »vor einigen Monaten … auf nach Deutschland« gemacht, war also nicht stracks nach Dresden gekommen. Auch diese Kraft-Szene hat etwas vielfältig Unwirkliches, gekünstelt Erfundenes an sich, ist so fernab einer halbwegs normalen Identifikation, so dass man nahezu an eine Persiflage denken könnte. Die Verwunderung »einen Brief von meinem alten Lindsay?« klingt fast wie eine darüber, dass es diesen tatsächlich geben soll, oder: dass dies jemand annimmt und einen Brief eines – wie May wohl bewusst ist: gar nicht existierenden – Lindsay vortäuscht, verwundert oder amüsiert May, der darob Kraft nahezu als Schwindler hinstellt.

Aber Winnetou stirbt in Mays Armen: ergreifendere Identifikation kann es doch gar nicht geben! Die Szene ist aber nur in einem Nebensatz zum Hauptthema Ave Maria erwähnt und überdies eingebettet in die Mitteilung, May beabsichtige »Winnetou auf die Bühne zu bringen«, da »es keine edlere und ergreifendere Bühnengestalt geben kann« als ihn! Damit ist aber durchaus nichts über einen realen Winnetou gesagt, sondern darüber, dass die Romangestalt zur »Bühnengestalt« werden solle. Auch die Feststellung vom »hochragenden Häuptling der Apachen, der ganz desselben tragischen Todes sterben musste, welchem seine untergehende Nation verfallen ist«, kann sich noch immer auf die Roman- bzw. werdende Bühnenfigur beziehen, und zwar als Allegorie für »seine« Nation. Anschließend ist Mays Thema »das Ave Maria«, nämlich jenes, »bei dessen Klängen er in meinen Armen die Augen schloß«. Auch das kann allegorisch gemeint sein, etwa dahingehend, dass er, May, als Dichter damit auf seine Weise jenes »tragischen Todes« gedenken möchte, dem diese »untergehende Nation verfallen ist«. Und damit leitet May über zum Schluss seiner Ausführungen, nämlich zum nunmehr ergänzten Ave Maria.

Was also selbst bei diesen Szenen an Identifikation bleibt, ist nicht bloß sehr wenig, sondern möglicherweise auch etwas ganz anderes: Kein Vielgereister in der Heimat schreibt sich manches von der Seele, sondern ein Vielschreibender, eingebettet in sein gedankliches Umfeld, in das seiner Romanfiguren, mit denen er sich freilich identifiziert, aber als sie formender Autor!

Wenn May hier flunkert, etwa mit Witwen aus Böhmen oder Wein vom Karst, dann eben als May und nicht als Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi. Ganz anders liest sich übrigens die May-Shatterhand-Sage im ein Jahr jüngeren »Weihnacht«!

Wie sehr konnte eigentlich ein aufmerksamer Leser May, nach eigenen Angaben »166 Centimeter hoch«, »75 Kilogramm« schwer, versehen mit »Schnurrbart und Fliege«, »sehr dunkelblond«, »schlank, sehnig«, identifizieren mit Old Shatterhands »nicht sehr hoher und nicht sehr breiter Gestalt«, was auch bedeutet: »mittlere Gestalt«, mit »einem dunkelblonden Vollbarte«, Sehnen »von Stahl« sowie Muskeln »von Eisen« und insgesamt dem »Eindruck großer Kraft und Ausdauerfähigkeit«[6]? Wer »von zu kleiner Gestalt« und dazu noch »schmächtig« ist, entspricht diesem Old Shatterhand-Bild ausdrücklich nicht[7] – was aber ist man bei »166 Centimeter hoch« und Mays bekannter Figur wie sie die Fotos gerade in Freuden und Leiden zeigen? Doch wohl eher »von zu kleiner Gestalt« und »schmächtig« und somit kein Old Shatterhand! Übrigens: Ein Jahr später, in Weihnacht[8], stimmt die Barttracht von Shatterhand mit May überein: Jetzt wird sie mit »Schnurrbart und Fliege« beschrieben, der Vollbart Shatterhands in den Jugenderzählungen der Jahre 1887 bis 1892 ist 1897 dem schütteren Barte Mays gewichen!

Ein klares Dokument für die Identifikation ist Freuden und Leiden also nicht unbedingt. Es sei denn, man geht mit dem Identifikations-Vor-Verständnis an den Text heran und übersieht so manches. Aber selbst dann bleibt doch, Hand auf's Herz, schon ein wenig Verwunderung über diesen Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi daheim.

 

 

Anmerkungen
 

[1] Ziffern im Text sind Seitenangaben zu Freuden und Leiden eines Vielgelesenen, in: »Deutscher Hausschatz in Wort und Bild«, XXIII. Jahrgang, Nr. 1-2, Regensburg 1896.

[2] Weihnacht!, Freiburg 1897, S. 125.

[3] Ebenda, S. 121 ff., 607.

[4] Ebenda, S. 123.

[5] F. KANDOLF - A. STÜTZ - M. BAUMANN, Karl Mays Bücherei, in: KMJb 1931, S. 242. – Es frägt sich, ob May damit nicht auch eine Fährte zu seinen Quellen gelegt hat. Auch wenn er keine Werke Wüstenfelds in seiner Bibliothek hatte, kannte er einschlägige Titel vielleicht durch Ausleihen wie etwa »Die Chroniken der Stadt Mekka« (1858-1861), »Das Leben Mohammeds« (1858) etc.

[6] Der Sohn des Bärenjägers (= Zürcher Ausgabe 1), S. 84, 537; Der Schatz im Silbersee (= Zürcher Ausgabe 4), S. 350; Der Ölprinz (= Zürcher Ausgabe 6), S. 266.

[7] Der Ölprinz, wie Anm. 6, S. 165.

[8] Weihnacht!, wie Anm. 1, S. 134.

 

 

Freuden und Leiden eines Vielgelesenen

Karl May – Forschungsartikel

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